»Dreckig, ungesund und sogar verboten«
Mein neuer Vermieter und ich stehen uns unschlüssig in der leeren Wohnung gegenüber, bis er mir schließlich seine Hand entgegenstreckt. Ich ergreife sie, wir schütteln uns die Hände. Eigentlich eine normale, selbstverständliche Geste – nicht aber im Juli 2020, vier Monate nach Beginn der Corona-Pandemie. In diesem Moment fühlt sich der Handschlag, an den die meisten von uns vor 2020 kaum einen Gedanken verschwendet haben durften, wie ein Tabubruch an. Zugleich ist der Handschlag zur Begrüßung so vertraut, dass sich Alternativen wie Ellbogen-Bump oder Verbeugung seltsam gekünstelt anfühlen.
Unser besonderes Buch im September: »Der Handschlag«
Für Ella Al-Shamahi war der Handschlag hingegen schon lange vor Corona alles andere als selbstverständlich. Die Paläoanthropologin wuchs in einer muslimischen Familie auf und hielt sich streng an die Regeln der Scharia, bis sie Mitte 20 war. Dazu gehörte auch, Männern nicht die Hand zu geben – und im Laufe der Jahre kreative Ausweichmanöver zu entwickeln. Ihre persönliche Perspektive auf das Händeschütteln verbindet sie in ihrem Buch »Der Handschlag. Die neue Geschichte einer großen Geste« (HarperCollins 2023, übersetzt von Violeta Topalova) mit ihrer wissenschaftlichen Expertise.
In sieben Kapiteln nimmt sie die Lesenden mit auf eine Reise durch Biologie, Anthropologie, Kulturgeschichte und Politik. Dabei fragt sie, woher die Geste überhaupt kommt, warum sie sich in so vielen Kulturen durchgesetzt hat und weshalb es uns während der Pandemie so schwerfiel, auf sie zu verzichten.
Gestaunt habe ich darüber, wie alt der Handschlag ist: Wahrscheinlich deutlich älter als die Menschheit selbst. Zu seinem Ursprung gibt es zahlreiche Theorien und Mythen. Hartnäckig hält sich die beliebte Erklärung, dass der Handschlag zunächst ein Zeichen war, keine Waffen bei sich zu führen. Al-Shamahi hingegen argumentiert, dass der Handschlag viel früher entstanden ist, und begibt sich auf eine gründliche Spurensuche in unserer Evolutionsgeschichte. Bei Schimpansen und Bonobos finden wir dem Händeschütteln ähnliche Gesten. Das deutet darauf hin, dass sich schon unsere letzten gemeinsamen Vorfahren vor sieben Millionen Jahren die Hand gegeben haben könnten.
Die Ursprünge des Handschlags liegen in unserer DNA. Doch der Handschlag, wie wir ihn heute praktizieren, ist ein kulturelles Produkt: Al-Shamahi betrachtet den »westlichen« Handschlag als eine Lingua Franca unter den Gesten, die sich durch koloniale Machtstrukturen weltweit durchsetzen konnte. Mit dieser Annahme eröffnet das Buch neben der evolutionsbiologischen auch eine spannende soziologisch-kulturgeschichtliche Perspektive auf die Geste.
Besonders gelungen ist die Mischung aus interdisziplinärer wissenschaftlicher Neugier und humorvollem Erzählen. Al-Shamahi schreibt zugänglich und lebendig, streut persönliche Anekdoten ein und verknüpft große historische Ereignisse mit ganz alltäglichen Momenten. So zeichnet sie ein vielschichtiges Bild einer Geste, die zugleich winzig klein und riesengroß ist – und aller pandemiebedingten Nachrufe zum Trotz nicht verschwinden wird.
»Der Handschlag« ist ein kurzweiliges, kluges Buch für alle, die gerne über das Besondere im Alltäglichen staunen.
Besondere Bücher bisher
In unserer Rubrik »Besondere Bücher« stellen wir euch jeden Monat ein Buch vor, das uns zum Staunen gebracht hat.